Die Wesentlichkeit finanzieller gegenüber nichtfinanziellen Themen wird in den meisten Unternehmen unterschiedlich beurteilt. Darüber hinaus sind verschiedene Abteilungen innerhalb einer Organisation für die Festlegung der wesentlichen Themen aus diesen unterschiedlichen Perspektiven verantwortlich. Unter dem Strich führt dies zu einer verpassten Chance, das Management dieser Themen zu harmoni-sieren und letztlich die Wertschöpfung des Unternehmens zu optimieren.
Zwei Perspektiven auf die Wesentlichkeit
Für Leitende der Rechtsabteilung oder den Chief Financial Officer bezieht sich die Wesentlichkeit gewöhnlich auf die technische und regulatorische Welt der finanziellen Berichterstattung – welche Themen beeinflussen die finanzielle Leistung eines Unternehmens kurz- bis langfristig. Für Verantwortliche im Nachhaltigkeitsbereich, legt die Wesentlichkeitsanalyse jedoch fest, welche Themen in einen Bericht über unternehmerische Verantwortung oder Nachhaltigkeit aufgenommen werden sollten. Zu diesen Themen gehören idealerweise diejenigen, die die langfristige strategische Leistung und Wertschöpfung des Unternehmens unterstützen. Dies ist die Absicht von einigen der führenden Rahmenwerke zur Nachhaltigkeit von Unternehmen, wie z.B. die Global Reporting Initiative (GRI) oder das Rahmenwerk des International Integrated Reporting Council (IIRC). In der Realität gibt es jedoch oft keine oder nur eine geringe Harmonisierung zwischen der Wesentlichkeit aus finanzieller Perspektive und aus Nachhaltigkeitsperspektive.
Mangelnde Harmonisierung zwischen finanziellen und nichtfinanziellen materiellen Themen
Wir sehen direkte Beweise für die mangelnde Harmonisierung, wenn wir die Themen betrachten, die ein bestimmtes Unternehmen in seiner 10-K- oder verwandten finanziellen Berichterstattung als wesentlich für seine finanzielle Leistung aufführt, und dann diese mit den wesentlichen Themen vergleichen, die das Unternehmen in seinem Nachhaltigkeits- oder CSR-Bericht auflistet. Diese beiden «wesentlichen» Themenkomplexe für ein und dasselbe Unternehmen weisen in der überwiegenden Mehrheit der von uns untersuchten Fälle kaum oder gar keine Übereinstimmung auf.
Vermeiden Sie «Box Ticking» Wesentlichkeitsanalysen
Gemäss unserer Erfahrung wird das Potenzial einer Wesentlichkeitsanalyse bei weitem nicht ausgeschöpft, wenn das Instrument lediglich zur Bestimmung des Inhalts eines Nachhaltigkeits- oder CSR-Berichts zum Einsatz kommt. Eine gut geplante und gewissenhafte Wesentlichkeitsanalyse involviert die Geschäftsleitung und sammelt Informationen von einer Vielzahl von Stakeholdern innerhalb und ausserhalb einer Organisation. Der Prozess umfasst in der Regel auch eine breit angelegte Datenerhebung. Idealerweise offenbart diese eine wertvolle Übersicht über den Sektor, in dem das Unternehmen tätig ist, bezieht dabei die Regulierungslandschaft, gesellschaftliche sowie technologische und ökologische Trends mit ein. Daher kann und sollte ein solcher Prozess ein integraler Bestandteil der langfristigen strategischen Planung eines Unternehmens sein.
Ein ganzheitlicher Ansatz
Um die Wesentlichkeitsanalyse strategischer zu gestalten und um die finanzielle Perspektive besser mit dem typischen Ansatz der Nachhaltigkeitsgemeinschaft in Einklang zu bringen, ist ein weiter Blickwinkel entscheidend. Im Prozess sollte sichergestellt werden, die kollektive Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger eines Unternehmens als Chance zu nutzen und gemeinsam mit Ihnen die Themen zu identifizieren, die die grösste Wirkung haben sowie die wichtigsten strategischen Implikationen mit sich bringen. Dazu zählen beispielsweise Innovation, Forschung und Entwicklung, mikro- und makroökonomische Faktoren, regulatorische und weitere Themen. Wir empfehlen Organisationen, einen ganzheitlichen Ansatz zu wählen, um die Themen zu identifizieren, die die größten Risiken oder Chancen darstellen, für die Fähigkeit des Unternehmens, langfristig erfolgreich zu sein. Dabei ist nicht nur zu prüfen ob und wie sich ein Thema auf die nachhaltige Entwicklung auswirkt, sondern auch wie es die langfristige Wertschöpfung beeinflusst. Beide Perspektiven sind essenziell und sollten als Teil eines jeden langfristigen strategischen Planungsprozesses betrachtet werden.
Strategische Wesentlichkeit in der Praxis
Die State Street Corporation, ein globales Finanzinstitut mit einem betreuten Vermögen von USD 33,10 Billionen und einem verwalteten Vermögen von USD 2,80 Billionen, führte kürzlich eine ganzheitliche Wesentlichkeitsanalyse durch. Um die Themen zu bestimmen, die in die Wesentlichkeitsanalyse miteinbezogen werden sollten, untersuchten wir gemeinsam eine Vielzahl potenziell relevanter Themen, darunter Themen der Standards der Global Reporting Initiative, von ISO26000 und vom Sustainability Accounting Standards Board (SASB). Im Jahr 2017 kündigte State Street öffentlich ihre Unterstützung für die Leitlinien der Taskforce on Climate Related Financial Disclosures (TCFD) an. Auch die Europäische Union hat Richtlinien für die nichtfinanzielle Berichterstattung herausgegeben, zu deren Einhaltung Unternehmen ab einer bestimmten Größe und Wirkung verpflichtet sind. Deshalb waren die Themen, die jedes dieser Regelwerke (TCFD und die CSR-Richtlinie der EU) umfassen, entscheidende Faktoren in der Wesentlichkeitsanalyse.
Ebenso wichtig war es, weitere geschäftsrelevante Themen zu berücksichtigen. State Street investierte beispielsweise stark in Produkt- und Dienstleistungsinnovationen im Bereich Umwelt, Soziales und Governance (ESG) sowie in die Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen bezüglich Sammlung und Analyse von «Big Data». Daher wurden die Themen Innovation und Digitalisierung in die Wesentlichkeitsanalyse miteinbezogen, um zu verstehen, wie und wo sie relativ zu anderen potenziell wichtigen Themen Priorität haben.
«Generell bieten Wesentlichkeitsanalysen eine einzigartige Chance, die Themen zu identifizieren, die die langfristige Leistung eines Unternehmens beeinflussen.»
Eine strategische Grundlage
Sobald ein Portfolio von Themen, die für die Fähigkeit eines Unternehmens langfristig Wert zu schaffen relevant sind, identifiziert wurde, sollten diese in die strategischen Planungsprozesse einbezogen werden. Als solche sollten ihnen wichtige Leistungsindikatoren zugeordnet werden, um den Fortschritt im Laufe der Zeit zu verfolgen. Zudem sollten Roadmaps entwickelt werden, um Strategien und Programme umzusetzen, die die gewünschten Ergebnisse bewirken. Generell bieten Wesentlichkeitsanalysen eine einzigartige Chance, die Themen zu identifizieren, die die langfristige Leistung eines Unter-nehmens beeinflussen. Diese Chance sollte auf allen Organisationsstufen ernst genommen und als grundlegendes Element des strategischen Planungsprozesses eines Unternehmens anerkannt werden.
Richard W. Pearl ist Senior Manager in der Corporate Citizenship Abteilung von State Street und verantwortlich für die Corporate Responsibility (CR) und Office of Environmental Sustainability Programme. Richard ist der globale CR-Beauftragte von State Street.
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Der Originaltext von Richard W. Pearl und Dr. Matthew Gardner ist unter dem Titel «The opportunity for Strategic Materiality» in der Ausgabe Nummer 12 von «The Reporting Times», der Zeitung des Center for Corporate Reporting (CCR), erschienen.