Seit bald 20 Jahren begleitet Stephan Lienin Unternehmen als Berater im Bereich Nachhaltigkeit von der Strategiefindung bis zum Integrierten Reporting. In dieser Zeit hat er von kurzfristigen Hypes über richtige Trends bis zu disruptiven Entwicklungen alles erlebt. Im Moment beschäftigen ihn und seine Partner von Sustainserv auch das Branchengespenst «Online First». Im Gespräch mit Thomas Gromann erzählt der promovierte Naturwissenschaftler und leidenschaftliche Hobbyschauspieler von den neuen Herausforderungen mit dem eigentlich gar nicht so neuen Internet.
Stephan Lienin trifft man sicher häufiger in den Teppichetagen von Konzernen und Organisationen als in den Büros von Sustainserv in Zürich und Boston. Eigentlich schade, denn aus dem wunderschönen Altbau gleich oberhalb des Zürcher Central geniesst man einen spannenden Blick über die Limmat direkt auf den ehrwürdigen Hauptbahnhof. Also alle, ausser Stephan Lienin, dessen Bürofenster in Griffnähe zur Trasse der Polybahn liegt.
Thomas Gromann: Stephan Lienin, mehr Zürich als in Deinen Büros geht nicht, oder?
Nein, wirklich nicht. Wir sitzen hier am Puls der Stadt und die Polybahn ist wie ihr Herzschlag. Alle paar Minuten zwei Wagen. Aber leider bin ich eigentlich viel zu wenig hier.
Wo und wie verbringst du deine Zeit denn mehrheitlich?
Bei Kunden in der Schweiz und in Deutschland und manchmal auch in der ganzen Welt. Ich habe Sustainserv 2001 zusammen mit zwei Partnern gegründet und nun sind wir 15 Mitarbeitende, hier in Zürich und drüben in Boston. Unsere Kunden in mehr als 20 Branchen sitzen aber verstreut und dementsprechend arbeiten wir auch weltweit.
Und privat?
Privat bin ich dann gern lokal unterwegs. Die wenige wirklich freie Zeit verbringe ich neben der Familie auch mit Streetfotografie und als Improvisationsschauspieler.
Wir arbeiten seit einiger Zeit zusammen und natürlich habe ich dich gleich zu Beginn gegoogelt. Dein Engagement als Schauspieler findet man aber unter den Mengen anderer Publikationen und professionellen Einträgen gar nicht so leicht.
Ja, wir besetzen eher eine Nische, just for fun und ziemlich schräg.
Albisufeine!
Die anderen in unserer Truppe verdienen ihr Geld rund ums Theater. Ich habe zwar auch einmal eine Schauspielausbildung gemacht, spiele aber beruflich auf einer anderen Bühne. Meist mit PowerPoint und Flipcharts.
Zurück zum Business. Als Agentur haben wir mit der konkreten Ausgestaltung und Umsetzung von Geschäftsberichten, Nachhaltigkeitsberichten und Integrierten Berichten zu tun. Du bei Sustainserv als Berater vor allem mit Strategien, Strukturen und harten Fakten.
Die Schnittmengen zwischen uns als Berater und den Kommunikationsagenturen können ganz unterschiedlich sein. Oft geht es für uns nur darum, Inhalte fürs Layout zu liefern, spannender wird es wenn man gemeinsam konzeptionell arbeiten kann, um Form und Inhalt zu optimieren.
Was uns in der Agentur immer wieder erstaunt, ist, dass in der Welt der Geschäftsberichterstattung das Internet noch als neu und voll im Trend liegt. In der Branche redet man auch im Jahr 2019 an Symposien noch ganz ehrfürchtig von «Online first» als «the next big thing».
Ja, das ist in dieser Welt wirklich eine Herausforderung.
Da sitzen dann also einige hundert sehr gut ausgebildete Fachleute aus Unternehmenskommunikation, Investor Relations und Controlling. Die meisten Mitglieder der Geschäftsleitung. Jeder checkt alle 15 Minuten sein Smartphone, liest seine Nachrichten online und nutzt seit Jahren Apps. Und für alle ist dann beruflich «das Internet» noch Neuland… Erstaunlich und auch ein wenig belustigend?
Das wäre vielleicht ein wenig überheblich… Die Online-Publikation von Geschäftsberichten ist tatsächlich eine grosse Herausforderung für viele Unternehmen. Wir haben einige dabei begleitet und die meisten unserer Kunden sind gerade in der Umstellung oder zumindest kurz davor. Das ist nicht ganz so trivial, wie man von aussen meinen könnte.
Was ist denn so anders bei der Onlineberichterstattung als im Print-Bereich?
Die ganzen Prozesse kommen historisch gewachsen aus Print und Finanzen. Früher wurde einfach gesagt die Jahresrechnung von einer Druckerei produziert. Dann kamen schöne Fotos dazu. Dann vielleicht noch ein paar Stories.
Eine integrierte Online-Berichterstattung stellt heute ganz andere Anforderungen. Financials sind nur noch ein Teil, Non-Financial kommen fast gleichwertig dazu. Es geht darum aufzuzeigen, welchen Wert eine Unternehmung für sich und die Gesellschaft schafft. Und wie sie das tut, wie sie das vor allem in Zukunft tun will und wie sie das sicherstellt.
Ein Ansatz aus dem Integrated Reporting, welches das Konzept der sechs Kapitalien nach <IR> einschliesst.
Das ist ein wichtiger Ansatz. Man kann die sechs Kapitalien nehmen, um die Wertschöpfung gesamt-haft darzustellen. Dazu kommt aktuell der Trend den langfristigen Impact des Unternehmens auf die wirtschaftliche, soziale oder ökologische Entwicklung aufzuzeigen. Zum Beispiel nach den 17 SDGs, den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. All das fliesst in das Konzept der Berichterstattung ein und verändert die Anforderungen an einen integrierten Bericht ziemlich.
Und bringt den klassischen Printbericht an die Grenzen.
Gut gemachte Onlinepublikationen können solche komplexen Zusammenhänge und Informationen besser abbilden als ein Printbericht. Financials und Non-Financials können wesentlich besser verknüpft und dargestellt werden. Bei Financials reichen eigentlich auch ein paar Tabellen, Grafiken und Kommentare. Non Financials können da ganz anders dokumentiert werden. Videos, Stories, Bildstrecken oder auch interaktive Tools.
Wir schauen uns regelmässig die Berichte in den Rankings über die Geschäftsberichterstattung an. Der Grossteil stellt mehr oder weniger eine klickbare Version des Druck-PDF online. Im schlimmsten Fall noch mit Schnitt- und Druckmarken.
Wie gesagt, die Industrie hat jahrzehntelang so funktioniert. Auch ich kann mich machmal dieser Denke nicht entziehen… Es ist ein Lernprozess. Ausgangslage ist oft immer noch das «Mutterdokument», also die komplette Druckversion. Daraus wird dann noch nebenbei eine Website gebaut.
Eher gebastelt als gebaut …
Naja, auch hier möchte ich ein wenig widersprechen. Es gibt auch wirklich gute Onlineberichte.
Zum Beispiel den von Clariant….
Unser Kunde Clariant wurde tatsächlich für seinen Integrierten Bericht 2017 als bester Geschäftsberichterstatter der Schweiz ausgezeichnet. Print und Online Reporting, Financials und Nonfinancial sind hier eng und spannend verzahnt.
Lass uns über die Potenziale sprechen. Was gewinnt ein Unternehmen, wenn es sich an das Thema Online First heranwagt?
Meistens werden ja mehrere Ziele gemeinsam verfolgt. Integrierte Berichterstattung, Online-Berichterstattung, neue Zertifizierungen und so weiter. An solchen Punkten der Veränderung bieten sich auch grosse Chancen. Zu diesem Zeitpunkt werden wir auch oft mit an Bord geholt, um solche Prozesse zu begleiten. Von der Stukturierung und Artikulation des Geschäftsmodells oder der genauen Positionierung und der Strategiedefinition bis hin zum Reporting decken wir mit unseren Spezialis-ten einen grossen Bereich ab. Nun, die Chancen liegen darin, dass man in Hinblick auf Online oder gar Online First beginnen kann, wichtige Non-Financials stärker oder gleichwertig zu thematisieren oder das Businessmodell zu schärfen und weiter zu entwickeln.
Wieso das Business Modell?
Weil es eigentlich im Zentrum steht, was aber oft vergessen wird. Und weil eine Visualisierung des Geschäftsmodells ein wichtiger Teil des Integrierten Reporting ist. Am besten klickbar und animiert. Dann kommen Agenturen wie ihr und fragen nach, was denn genau wie visualisiert werden soll. Das ist oft der Stein des Anstosses um sich ein paar grundsätzliche Gedanken zu machen.
Wir bekommen in der Tat oft einfach einen ganzen Wust an PowerPoint Folien mit der Aufforderung: Macht doch mal eine schöne Grafik für den Onlinegeschäftsbericht daraus. Sobald wir das genauer ansehen merken wir dann, dass es entweder viele verschiedene Versionen eines Business Modells gibt oder dass es seit langem nicht mehr aktuell ist.
Wenn das Geschäftsmodell diskutiert wird, beginnt das häufig bei Fragen rund um die Darstellung. Im Kern sollte die Frage stehen, wie das Unternehmen Wert schafft und wie man dies möglichst einfach darstellen kann.
Wir beginnen unsere Kommunikationsprojekte in der Regel mit der einfachen Frage: Wer ist die Zielgruppe und welche Ziele sollen in Bezug auf Wissen, Einstellung und Verhalten erreicht werden. Wenn wir das bei Geschäftsberichten machen, kommt zuerst aus der Kanone geschossen: Die Analysten, die Akionäre. Nach einer kleinen Pause kommen dann eine Vielzahl von Stakeholdern, meistens sehr diffus beschrieben und die Kommunikationsziele sind selten klar formuliert.
Die ersten beiden Ziegruppen sind dann noch relativ klar: Die Analysten sollen das Unternehmen gut bewerten und im Idealfall empfehlen…
… und die Aktionäre sollen dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung vertrauen, ihr Gehalt und ihren Bonus freigeben und sie sonst in Ruhe lassen.
Ich finde, das ist zu kurz gegriffen und zu sehr vereinfacht. Wir haben Beispiele, in denen die Berichterstattung zum Employer Branding eingesetzt wird und einen echten Vorteil im War for talents bringt. Oder zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele in allen Bereichen beiträgt.
Die Onlineversion ist dann besonders wichtig. Kaum ein Bewerber wird sich einen Printbericht bestellen um sich einen ersten Eindruck einer Unternehmung zu machen.
Die High Potentials schauen sich einen potenziellen Arbeitgeber schon ganz genau an. Und das tun sie in der Regel online, auf dem Smartphone. Wenn da dann da nur ein Druck-PDF liegt oder die Seite nicht responsive ist…
… haben sie auch einen ersten Eindruck gewonnen.
Aber vielleicht den falschen. Vielleicht ist ja die Firma eigentlich sehr modern und innovativ, nur der Geschäfts- und Nachhaltgkeitsbericht hinkt dem um ein Jahrzehnt hinterher, weil Prozess und Struktur nicht zeitgemäss sind.
Unsere Analysen des Onlineverhaltens zeigt, dass ein Grossteil der Besucher direkt zu den Zahlen surft. Das sind dann wohl die Analysten. Wir haben das scherzhaft auch schon mal mit Ostereier suchen verglichen. Wir nehmen die Zahlen, welche die Analysten suchen, verteilen sie auf vielen Seiten und über den ganzen Bericht. Die Analysten wiederum drucken sich den Bericht aus, suchen die Zahlen, markieren sie mit Leuchtstift und tragen sie ihr Excel-Sheet ein. Also fast wie die Ostereier zuerst verstecken und dann suchen lassen, reine Folklore.
Ich verstehe, was ihr damit meint (lacht). Auch da kann man in einem Online Bericht Nutzen stiften. Bei einigen Kunden haben wir nun einen Download für eine begrenzte Anzahl Analysten aus dem Nachhaltigkeitsbereich entwickelt. Einerseits als gelayoutetes PDF, andererseits als CSV-File. Das kann sich der Analyst runterladen und gleich in sein eigenes Excel übertragen. Den Bericht braucht er aber auch noch, um im Detail die Zahlen und Aussagen verifizieren zu können. Ausschliesslich Folklore ist das nicht!
Einige Firmen gehen auch Zwischenlösungen. Einen relativ kompakten Online-Bericht, der die wichtigsten Zahlen aus allen Bereichen darstellt und mit intensivem Storytelling in Bild, Video und Text gleichzeitig aufs Branding einzahlt. Den Bericht für die Revisionsstelle, die Behörden und die Analysten liefern sie als auf Laptops und Tablets optimierte, klickbare PDFs. Die kann sich ein Analyst auch optimal selbst im Büro ausdrucken, wenn er das will. Auf eine Aufbereitung für aufwändigen Offset-Druck wird verzichtet. Eine, wie wir finden, pragmatische Lösung. Aber halt nur eine Zwischenlösung. Was hältst du davon?
Finde ich toll. Vor allem, weil es besser ist, jedes Jahr einen Schritt vorwärts zu machen als alles in einem grossen Wurf machen zu wollen. Das ist nicht nur aus finanzieller Sicht oft nicht die beste Lösung.
Was ist denn eurer Erfahrung nach die beste Lösung?
Kommt auf den Zeitrahmen an. Wenn uns jemand im November anfragt für den Bericht vom nächsten März, dann suchen wir natürlich zuerst nach den Low Hanging Fruits. Wenn man mehr Zeit hat und verschiedene Ansätze testen will, kann auch ein Mock up Bericht sinnvoll sein. Dieser stellt den gewünschten Bericht in Struktur und Form dar, vorerst ohne die aufwändige oder teilweise noch gar nicht mögliche Beschaffung echter Daten. Damit kann mit allen internen oder auch schon externen Stakeholdern ein optimaler Bericht vorbereitet werden. Der Prozess kann ein paar Monate dauern oder sich auch über ein, zwei Jahre hinziehen.
Lohnt sich dieser zusätzliche Aufwand denn?
Vor allem dann wenn man verschiedene interne Stakeholder noch überzeugen muss. Aber erstens fliessen die Erkenntnisse, wenn immer möglich, schon in die parallel laufenden Berichte und Statistiken ein. Zum anderen werden Umwege vermieden. Über zwei, drei Jahre betrachtet spart man so nicht nur Geld, sondern auch Zeit. Abgesehen davon liefert ein solches Vorgehen auch überzeugendere Resultate – intern wie extern.
Zum Schluss: Ist Online First die Zukunft des Reportings?
Prognosen sind immer schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Doch in diesem Fall würde ich klar Ja sagen!
Danke für das Gespräch, Stephan!
Erschienen auf therefore